Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hat mit Urteil vom 15. Juni 2016 entschieden, dass der Widerruf eines 2010 für einen tunesischen Staatsangehörigen festgestellten Abschiebungsverbotes wegen drohender Folter rechtswidrig ist und diese Widerrufsentscheidung aufgehoben.

 

Der Kläger ist tunesischer Staatsangehöriger, der 1997 zu Studienzwecken nach Deutschland eingereist ist. Ihm wurde vorgeworfen, im Jahr 2000 eine militärische und ideologische Ausbildung in einem Ausbildungslager der Al Kaida in Afghanistan absolviert und zeitweise zur Leibgarde von Osama Bin Laden gehört zu haben. Anschließend soll er sich in Deutschland als salafistischer Prediger betätigt haben. Der Kläger hat diese Vorwürfe stets bestritten. Die Bundesanwaltschaft hatte gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber schließlich mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt. Gleichwohl nahm die Ausländerbehörde der Stadt Bochum die genannten Vorwürfe zum Anlass, den Kläger auszuweisen. Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) bestätigte im April 2015 die Ausweisungsverfügung in letzter Instanz. Damit ist der Kläger in Deutschland nur noch geduldet, d.h. ein Aufenthaltsrecht steht ihm nicht zu, er kann jedoch auch nicht abgeschoben werden.

 

Bereits im Jahr 2006 hatte der Kläger einen Asylantrag gestellt, mit dem er geltend gemacht hatte, dass er wegen ihm in Tunesien drohender menschenrechtswidriger Behandlung nicht nach Tunesien zurückgeführt werden könne. Aufgrund eines Urteils des Verwaltungsgerichts Düsseldorf und Bestätigung der wesentlichen Aussagen dieses Urteils durch das OVG NRW stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Bescheid vom 21. Juni 2010 fest, dass der Kläger nicht nach Tunesien zurückgeführt werden dürfe, da ihm dort Folter und unmenschliche Behandlung drohe (Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes in der damals geltenden Fassung).

Mit Bescheid vom 17. Juli 2014 widerrief das BAMF diese Feststellung, weil sich nach dem Umsturz in Tunesien seit Anfang des Jahres 2011 (sog. Arabischer Frühling) die Verhältnisse so geändert hätten, dass dem Kläger die früher festgestellten Gefahren nun nicht mehr drohten.

 

Gegen diesen Widerrufsbescheid richtete sich die Klage, die das Verwaltungsgericht nunmehr im Sinne des Klägers entschied.

Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass die Voraussetzungen der anzuwendenden Rechtsgrundlage in § 73c Abs. 2 Asylgesetz nicht vorliegen würden. Die Verhältnisse in Tunesien hätten sich nicht in einem solchen Maße geändert, dass für den besonderen Fall des Klägers eine andere Bewertung als bei der bereits 2010 erfolgten Feststellung des Abschiebungsverbotes gerechtfertigt sei.

Es sei damit zu rechnen, dass der Kläger nach einer Rückführung nach Tunesien von den dortigen Sicherheitsbehörden verhört und ggf. festgesetzt werden würde. Das ergebe sich aus der umfassenden Medienberichterstattung über den Kläger, in der er als Leibwächter von Osama Bin Laden und islamistischer Kämpfer dargestellt worden sei. Diese Berichterstattung sei den tunesischen Behörden bekannt, die auch bereits  nach dem Verbleib des Klägers angefragt hätten. Für die Beantwortung der entscheidungserheblichen Frage, ob dem Kläger aus Anlass von zu erwartenden Befragungen und Verhören auch die Anwendung von Folter drohe, hat die Kammer Auskünfte des Auswärtigen Amtes sowie der Weltorganisastion gegen Folter (Organsiation Mondiale Contre la Torture – OMCT) eingeholt. Auf der Grundlage dieser Auskünfte ist sie zu dem Ergebnis gekommen, dass trotz zahlreicher Fortschritte und Verbesserungen im gesellschaftlichen und demokratischen Leben der Republik Tunesien für den besonderen Fall des Klägers nach wie vor ein hohes Risiko bestehe, gefoltert oder unmenschlich behandelt zu werden.

 

Das Gericht hat insbesondere klargestellt, dass die Frage islamistischer oder salafistischer Vergangenheit oder Betätigung des Klägers im vorliegenden Verfahren keine Rolle gespielt habe. Dem Verbot, Menschen der Folter auszusetzen, komme im internationalen und nationalen Recht ein so hoher Stellenwert zu, dass niemand einem entsprechenden Risiko ausgesetzt werden dürfe.

Die Entscheidung lasse keinerlei Rückschluss auf die allgemeinen Verhältnisse in Tunesien zu; sie sei insoweit nicht repräsentativ, sondern betreffe den ganz besonderen Fall des Klägers mit dessen Darstellung in der (auch tunesischen) Öffentlichkeit.

Schließlich sei ein erneuter Widerruf des Abschiebungsverbotes des Klägers nicht ausgeschlossen, wenn sich die konkreten Verhältnisse im Hinblick auf den Kläger (zu drohenden Misshandlungen) in Tunesien nachhaltig und hinreichend sicher geändert hätten.

 

Gegen die Entscheidung kann ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt werden. Sie wird in Kürze unter www.nrwe.de abrufbar sein.

Aktenzeichen: 7a K 3661/14.A